730.

04.01.2017

Herzklopfen. Es wird schneller, immer schneller. Ich merke, wie schweißnass meine Hände sind. Bloß nicht weinen, Swenja. Bloß nicht schwach werden. Scheiße, jetzt passiert es doch. Reiß dich zusammen, du bist doch ein starkes Mädchen. Okay, ich kann es nicht mehr halten. Wie peinlich das ist. Jetzt noch im Wartezimmer deine Jacke holen. Alle starren dich an. ,,Auf Wiedersehen.“ Ich denke mir dabei, dass ich ja nun öfter hier sein werde. Die ganze Straßenbahnfahrt Tränen in den Augen. Ich kann keinen klaren Gedanken fassen. Wie soll es jetzt weitergehen? Lande ich sofort im Rollstuhl? Was macht diese Krankheit mit mir? Warum gerade jetzt? Jetzt, wo du bald für 6 Wochen nach England willst. Jetzt, wo in einem Monat deine ersten Prüfungen in der Uni sind. Okay, noch eine Haltestelle und du bist bei der Radiologie. Ein MRT vom Kopf, das wird schon nicht so schlimm sein, einen Termin zu machen. Hör auf zu heulen, du musst gleich mit der Dame am Empfang reden. Ich lege ihr die Überweisung hin, sie schaut in mein Gesicht und gibt mir einen Termin in 3 Tagen. Ich sehe ihr ihr Mitleid förmlich an. Jetzt endlich nach Hause, nur in die Arme deines Freundes. Die Blicke der Mitfahrer stechen mir direkt ins Herz. Sie denken sicherlich, dass ich gerade verlassen wurde oder jemand gestorben ist. Wenn die wüssten…

04.01.2018

Herzklopfen. Es wird schneller, immer schneller. Ich merke, wie schweißnass meine Hände sind. Bloß nicht an Wasser denken, Swenja. Bloß nicht schwach werden. Scheiße, jetzt passiert es doch. Lauf ein bisschen schneller, Swenja. Die Toilette ist am anderen Ende der Praxis. Okay, zum Glück kann ich es halten. Das wäre peinlich geworden. Puh. Wo kommen diese ganzen Menschen her? Entschuldigung, darf ich mal kurz? Okay, dann nicht. 45 Minuten warte ich schon. Immer mehr Menschen betreten Kalis Praxis, die ich allmählich in- und auswendig kenne.
Dort sieht man zwei junge Damen bei der Infusion – trotz Schub sind sie wirklich gut gelaunt. Und da ist noch jemand, der so aussieht, als hätte er MS. Er starrt wissend auf die Schleife auf meinem Tattoo und lächelt. Ha, wusste ich es doch! Uiuiui. Das erste Mal im Leben wird meine Vene in der Armbeuge beim ersten Stich getroffen. Tschaka, heute wird ein guter Tag!  Langsam aber bestimmt nehme ich die Treppe auf dem Weg aus der achten Etage nach unten. Meine Hand gleitet langsam über das Geländer, berührt es aber nicht. Ich komme auch ohne heile unten an.

04.01.2019

Herzklopfen. Es wird schneller, immer schneller. Ich merke, wie staubtrocken meine Hände sind. Bloß nicht mit der Creme auf die schöne Couch tropfen, Swenja. Bloß nicht zittern. Okay, ich kann es nicht mehr halten. Grandios, das gibt einen schönen Fleck. Nur, weil der Winter die Hände immer so trocken macht. Was ist heute eigentlich für ein Tag? Freitag? Fühlt sich an wie Mittwoch – dieser Jahreswechsel bringt einen doch jedes Jahr völlig durcheinander. Der vierte Januar… War da nicht irgendetwas? 
Als es mir schließlich einfällt. fühlt es sich nicht so schlimm an, wie man vermuten könnte. Zwei Jahre ist es her, dass ich meine Diagnose erhalten habe. Und heute geht es mir besser, als ich es mir hätte ausmalen können. Ich kann sehen, laufen, gehe sogar als Aushilfe neben der Uni arbeiten, schreibe dieses Jahr meine Bachelorarbeit und im kompletten letzten Kalenderjahr gab es keinen Schub.

730 Tage liegen zwischen der ersten und dieser Erzählung und 365 Tage zwischen den letzten beiden. Ich schrieb letztes Jahr davon, dass ich es zur Tradition lassen werde, dass ich jedes Jahr am 4. Januar Blut abgebe – hätte ich richtig gerechnet, hätte ich gemerkt, dass sich 52 Wochen schlecht durch sechs teilen lassen – denn nur alle sechs Wochen ist die Blutabnahme nötig. So geht’s halt erst in zwei Wochen wieder zu Kali und jetzt erstmal zur Arbeit.