Seit gestern bin ich ein Wutbürger. Eigentlich war ich schon länger wütend, jedoch hat der gestrige Abend das Fass zum Überlaufen gebracht. Natürlich hört man solche Geschichten fast täglich, liest sie auf diversen Seiten im Internet oder ist selbst dabei, wenn es passiert.
Ein Mann fragt eine Frau nach dem Weg – nichts außergewöhnliches, könnte man denken. Doch was ist der Frau in den Sinn gekommen, als sie, anstatt zu antworten, gehässig lacht und antwortet: „Geh‘ doch dort drüben in das Autohaus und frag da nach dem Weg. Ich antworte dir sicherlich nicht.“? Hat er sie schief angeguckt? Oder zu anzüglich angeguckt? Hat er ihr Angst gemacht?
Derselbe Mann kauft sich in einem Supermarkt ein französisches Croissant, was er in Deutschland lieben gelernt hat. Dazu holt er sich nur einen kleinen Orangensaft, denn es bleibt nur wenig Zeit in seiner Pause zum Essen. Leider hat er gerade kein Bargeld einstecken – so, wie es Leuten im Jahr 2019 wohl laufend passiert. Also alles nichts außergewöhnliches, könnte man denken. Doch was ist der Kassiererin in den Sinn gekommen, als sie, anstatt ihre Arbeit zu tun und ihn abzukassieren, angeekelt und böse guckt und antwortet: „So wenig mit Karte bezahlen? Scheiß Ausländer!“? Hat er etwas falsch gemacht? Darf man in Deutschland so kleine Beträge nicht mit Karte bezahlen? Hätte er lieber doch in der Schule bleiben, nach Schluss erst einmal Geld holen und sich dann etwas zu essen kaufen sollen? Wäre die Kassiererin dann nett zu ihm gewesen?
Ach, klang es bisher etwa so, als wäre ich wütend auf ‘die Ausländer‘, wie es im Moment so viele deutsche rechtschaffende Bürger sind? Mitnichten! Ich bin wütend auf Menschen, die sich das Recht dazu herausnehmen, einem jungen Mann von 19 Jahren aus dem Jemen mit solch hartem Rassismus entgegenzutreten.
Ein Junge, der mir gegenübersitzt, mir Schokobons anbietet, lacht, als ich sage, ich könne sie nicht essen, da ich mich vegan ernähre und mir entgegnet: „Aber es gibt doch nur ein Leben, man darf auf nichts verzichten!“
Ein Junge, der seit sieben Monaten die deutsche Sprache lernt und sie jetzt schon besser beherrscht als manch Einwohner unseres Landes.
Ein Junge, der so trocken vom Krieg in seinem Land erzählt, in dem es zurzeit keine Botschaft mehr gibt und der daher für sein Visum vier Tage mit einem Bus in den Oman reisen musste, um die dortige Botschaft zu erreichen. Ohne zu wissen, ob er dort jemals ankommen wird oder ob er auf dem Weg in ein Gefecht der gegnerischen Parteien gerät.
Ein Junge, der mehrere tausend Euro auf einem Konto in Deutschland hinterlegen muss, damit sich die deutschen Behörden sicher sein können, dass er das Geld für eine Rückreise hat. Dafür verzichten seine Eltern und Geschwister Zuhause auf so Einiges – damit ihr Sohn und Bruder Maschinenbau in Deutschland studieren kann. „Denn wenn man hier studiert hat, dann kann man überall arbeiten!“
Ein Junge, der an elf Prüfungen, zu denen er durch ganz Deutschland reisen muss, teilnimmt, um angenommen zu werden. Er reist mit seinem Freund unter anderem nach Nordhausen, Köthen, Berlin, Leipzig, Wismar und Bochum, um dort in der deutschen Sprache und Mathematik geprüft zu werden. Er zeigt uns Probeaufgaben und ich bin verwundert. Würde ich das hinbekommen? Dass ich nicht den mathematischen Anforderungen für ein Maschinenbaustudium entspreche, ist mir klar. Aber was ist das bitte für ein Lückentext, den die Bewerber in 30 Minuten ausfüllen müssen, um so ihre Kenntnisse der deutschen Grammatik zu beweisen? Der Text erscheint mir unglaublich willkürlich und unterliegt keinen objektiven Vergleichskriterien. Ich bin entsetzt. Natürlich wollen die Unis nur die Besten der Besten annehmen und keinem anderen einen Studienplatz wegnehmen aber rechtfertigt das dieses Prozedere? Er erzählt mir später, dass er in einem Test zwar 90 % der Punkte erreicht hat und ein Junge aus Russland lediglich 60 %, dass aber aufgrund der Quote der Russe angenommen wurde – jemanden aus dem Jemen haben sie schon angenommen und es solle ja eine gute Mischung geben. Wie bitte? Da lernt er schon sechs Stunden am Tag, um dann wegen einer scheiß Quote abgelehnt zu werden? Mir entgleisen die Gesichtszüge.
Ein Junge, der sich bewusst ist, dass er sofort abgeschoben wird, wenn er innerhalb eines Jahres keine Zulassung für die Uni bekommt. Er will nicht wieder zurück in den Jemen. Aber nicht, weil er Angst vor dem Krieg hat, wie man es annehmen würde – sondern, weil er dann nicht das wertvolle Studium in Deutschland machen könnte, für das er so viel gelernt hat.
Erst kann ich nur mit Kopfschütteln reagieren. Mein Mund ist trocken. Mir würde eh nichts einfallen, was ich ihm entgegnen könnte. Ich beginne, mich für die Unfreundlichkeit mancher Deutscher zu entschuldigen; zu sagen, dass nicht alle so sind; Mitgefühl zu zeigen. Ich versuche, meine Wut zu unterdrücken. Ich frage ihn, was er macht, wenn ihm solch asoziales und unmenschliches Verhalten entgegengebracht wird. „Was soll ich machen? Ich sage: ‚Danke, einen schönen Tag noch.‘ und gehe.“ Ich überlege, was ich tun würde, wenn ich in einem fremden Land wäre und mir so etwas passieren würde. Ich würde weinen. Ich würde fluchen. Ich würde zurückfahren wollen. Zurück zu meiner Familie. Egal ob Krieg oder nicht. Und er? Er möchte hier bleiben und studieren – die Kommentare kann er ignorieren.
Später im Bett wandelt sich meine Wut zu Unverständnis. Zu Trauer. Ich verstehe nicht, wieso es Menschen gibt, die anscheinend nichts besseres zu tun haben als einen 19-Jährigen auf übelste Weise zu beleidigen, nur weil er eine andere Hautfarbe hat und mit einem fremden Akzent spricht. Hat sich die Menschheit wirklich auf solch falsche Art entwickelt, dass wir sofort jeden Ausländer unter Generalverdacht stellen, sofort Angst haben und an seiner Freundlichkeit zweifeln, weil wir irgendwo von irgendwem gelesen haben, dass ein ‚fremdländisch aussehender Mann‘ ihn verprügelt hat?
Es gibt so viele Idioten auf der Welt. So viele Menschen, die Böses im Sinn haben. Es gibt so viele böse Araber. So viele böse Russen. So viele böse Chinesen. So viele böse Polen. So viele böse Italiener, Engländer, Schweizer.
So. Viele. Böse. Deutsche!
Jeder Mensch, der einem anderen Gewalt antut, ist ein Idiot. Und das hat rein gar nichts mit seiner Nationalität zu tun. Bitte lernt das endlich, öffnet eure Augen, kommt mit anderen ins Gespräch und hört auf, zu pauschalisieren und alle über einen Kamm zu scheren.