Endspurt

In sechs Tagen fliegen wir zurück. Zwar noch nicht endgültig nachhause nach Leipzig, sondern erst einmal zu meinen Eltern, jedoch ist das viel viel mehr Zuhause als unsere Unterkunft hier.

Wir stehen in den Startlöchern: planen unseren letzten Einkauf heute akkurat genau, damit ja nichts übrig bleibt, haben unser Taxi zum Flughafen für Donnerstag bereits bestellt und warten eigentlich förmlich nur noch darauf, dass es zurück geht.

Es war bzw. ist unendlich schön hier, das kann man kaum abstreiten. Jedoch ist es natürlich einfach nicht das Selbe. Man ist nie wirklich entspannt. Zumindest nicht vollkommen. Und nicht… frei. Irgendwie.

Wir haben die letzte Zeit gut ausgenutzt, waren täglich spazieren, oft auch sehr große Runden, aber ich merke, dass es nicht vergleichbar zu der sonstigen alltäglichen Bewegung ist. Zwar ist mein Freund der Meinung, dass wir uns hier mehr bewegen aber wenn ich überlege, was für kleinere Wege ich sonst täglich erledige, denke ich, dass ich hier schon ziemlich faul bin.

Ob man es glaubt oder nicht: Ich freue mich, den Monat bei meinen Eltern mit Fahrradfahren zur Praktikumsschule (wuuuuh, mein allererstes Praktikum, ich bin jetzt schon ein wenig aufgeregt), Spaziergängen und Verabredungen mit Freunden zu verbringen. Endlich wieder mehr Beschäftigung als lesen und essen (so sieht die Wahrheit leider aus).

Und wenn ich zurück in Leipzig bin, werde ich beginnen, im Fitnessstudio zu trainieren. Zwar wahrscheinlich nicht annäherungsweise so viel und so extrem wie andere, aber angemessen und ausreichend für meinen Körper. Irgendwie freue ich mich darauf. Ich hätte niemals gedacht, dass ich solche Gedanken haben könnte. (an dieser Stelle an alle meine Freunde und meine Familie: falls ich euch jemals vorjammere, dass ich keine Lust auf Sport habe, erinnert mich an den 25.08.17 und meinen Eintrag, danke!)

Zu meinem gesundheitlichen Stand so viel: Ich muss mir jeden Morgen zwei Stunden vor dem eigentlichen Aufstehen einen Wecker stellen, um meine Tabletten zu nehmen. Wenn ich nämlich meinen Morgenkaffee und meine Tabletten gleichzeitig nehme, bekomme ich starke Bauchschmerzen und mir geht es den ganzen Tag über schlecht. Also muss ich es so machen. Grandios.
Meine Beine sind an manchen Tagen gefühlsloser als an anderen (was sicherlich mit der geringen Bewegung zu tun hat).
Ich habe ab und zu Schmerzen in meinem linken Unterarm, der anscheinend versucht, zu krampfen und es von den bösen Levis verboten bekommt.
Und ich habe eigentlich jeden Tag in bestimmten Situationen unausstehlichen Schwindel: Wenn ich aufstehe, mich hinlege, mich mit einer höheren Geschwindigkeit als 0,00000000000001 mm/s drehe oder meinen Kopf (z.B. beim Haarewaschen) nach unten beuge.

Nun ja, damit muss und werde ich mich wohl abfinden. Es könnte viel schlimmer sein und ich bin unendlich froh, dass ich unseren Urlaub bis hierher so genießen konnte.

PS: am 5.9. habe ich wieder einen Termin bei Kali; bin sehr gespannt, was sie sagt.

Gleichgültigkeit

Ich habe bei unserem langsamen W-Lan in unserer Unterkunft ganze 3 Minuten darauf gewartet, um ein Ergebnis zu erhalten. Dieses lautet: „Selbstwertschätzung“ existiert nicht im Duden. Meinten Sie vielleicht „Selbstwertgefühl“?

Hm, in meinem Kopf hatte sich dieses Wort richtig angehört. Also existiert es auch. Zumindest für mich (21, Germanistikstudentin). Wenn die Worte nicht existieren, erfinde ich sie halt neu. Aber genug Palaber (auch gegoogled, heißt eigentlich Palaver; was ist nur los mit mir?). 

Ich habe viel Zeit hier in England dafür, über Dinge nachzudenken, über die ich mir früher nur nebenbei Gedanken gemacht habe. In der letzten Zeit ist mir ein Thema besonders häufig über den Weg gelaufen. Die Tatsache, dass ich anderen Menschen regelmäßig Ratschläge gebe, die ich anscheinend selber nicht einhalten kann. 

Erst heute habe ich einer Freundin ziemlich direkt zu verstehen gegeben, dass sie mehr auf sich selbst hören muss. Darauf, was für sie am besten ist. Dass wir nur ein Leben haben und wir uns von nichts und niemandem, was unsere Entscheidungen betrifft, beeinflussen lassen sollten. Dass es uns eh keiner genügend dankt. Dass Zeit etwas ist, was uns keiner geben kann. Und… dass es uns egal sein kann, sollte und muss, was andere über uns denken.

Ich habe eine Ausbildung als Hotelfachfrau gemacht. Ich habe viele Überstunden gemacht, oft 12 Tage am Stück gearbeitet, selbst gearbeitet, wenn ich krank war. Nur, um es anderen recht zu machen. Wie es mir selber dabei ging, war meist egal, da ich einfach nur funktionieren musste und wollte.

Zum Glück hat man mir auf die Sprünge geholfen, dass ich das Potenzial dazu habe, etwas Neues zu versuchen, zu studieren und etwas anderes zu machen, was mich vielleicht mehr erfüllt. Das Studium hat mir Seiten an mir gezeigt, die ich selbst nicht kannte. Ecken, die ich mit den größten Verrenkungen niemals hätte sehen können, wurden mir gezeigt. Ich wurde neu erfunden. Habe mich selbst neu erfunden. Und ich glaube, dass nicht nur das Studieren, sondern besonders auch die MS einen Großteil dazu beigetragen hat.

In der Reha und auch in der Nachsorge habe ich viele psychologische Termine gehabt und an vielen Gesprächsgruppen teilgenommen. Früher hätte ich mich dafür ausgelacht und mich eventuell vor anderen dafür geschämt. Doch der Austausch mit anderen „Leidensgenossen“ hat mir die Augen geöffnet.

Es ist egal, dass du weinend in der Bahn sitzt, weil du deine Diagnose bekommen hast und dich alle anstarren.
Es ist egal, dass du im Fitnessstudio auf dem Laufband nur 3,5 km/h läufst, davon schwitzt und dich alle anstarren als wärst du das unsportlichste Wesen auf diesem Planeten.
Es ist egal, dass dich die Leute in der Uni anstarren, als wärst du betrunken, weil du so herumtaumelst.
Es ist egal, dass du von älteren Menschen in der Straßenbahn schräg und abwertend angeschaut wirst, weil du ihnen deinen Sitzplatz nicht anbietest.
Es ist  egal, was die Leute von dir denken. Sowas von egal. Hauptsache ist doch, dass du dich selber gut fühlst. Die Leute sehen dir nicht an, was los ist, was dich betrübt und was dir passiert ist.

Und was mir am meisten bewusst wurde: Es interessiert sie nicht mal halb so sehr, wie du dir vorstellst. Sie haben ihre eigenen Probleme zu regeln. Und selbst wenn sie eine Minute lang über dich reden, dich vielleicht sogar auslachen: In spätestens einer Stunde haben sie es schon längst vergessen. Haben dich vergessen.

Klar ist meine Bratwurst das Letzte, was ich mir gewünscht habe und natürlich verfluche ich sie (fast) jeden Tag für ihre Existenz. Aber ich bin mir sicher, dass ich in manchen Dingen eine klarere Sicht habe. Einen Blickwinkel erreichen kann, an den ich damals nicht mal zu denken gewagt habe. Und somit hat sie doch auch etwas gutes.. Oder bin ich da zu naiv?

Halbzeit

Die erste Hälfte unseres Aufenthaltes in England endet heute. Ab morgen werden die Tage rückwärts gezählt.

Da ich hier wirklich viel viel Zeit habe, habe ich mir diese gestern genommen und zwei Stunden meinen eigenen Blog durchgelesen.

Von Anfang an.

Jeden einzelnen Beitrag.

Ganz gründlich.

Ich habe mich die ganze Zeit vorher gefragt, wie es sein kann, dass mir immer wieder neue Leser schreiben, dass sie auf meinen Blog aufmerksam wurden oder gemacht wurden und nun mit Tränen in den Augen Zuhause sitzen und mir schreiben.

Weinen? Wegen meines Blogs? Warum? Ich erzähle doch lediglich, was mir passiert ist bzw. was mir passiert.

Und, Swenni, jetzt hast du ja selber noch einmal alles vom Beginn an gelesen, was sagst du? – Ich habe viele Rechtschreib- und Zeichenfehler gefunden. Und ich habe gelacht. Und viel geweint.

Ob man es glaubt oder nicht: ich habe geweint. Wie ein Schlosshund.
Viele Geschichten und Geschehnisse, die ich beschrieben habe, hatte ich selber schon vergessen. Oder bewusst aus meinem Gedächtnis verdrängt.

Ich wurde schmerzlichst an die schlimmen Augenblicke, Momente, Stunden und auch Tage erinnert, die mir meine Bratwurst gebracht hat.
Doch auch an die Guten…

An die vielen Menschen, die ich während der Reha kennenlernen durfte, an diejenigen, die ich nur durch die Krankheit getroffen habe (ob es nun Ärzte oder neue Freunde und Bekannte sind) und auch an alte Freundschaften, die einem wieder ins Gedächtnis gerufen wurden.

Ich bin seit nun fast 7 Monaten schubfrei. Bis auf ein paar Sensibilitätsstörungen, einen nicht ganz so festen Gang, die (zum Glück ruhende) Epilepsie und eine geringe Ausdauer geht es mir gut.

Mein Blog gibt mir Kraft. Irgendwie. Neue Hoffnung, dass ich doch noch dazu in der Lage bin, etwas zu schaffen, was vielleicht nicht alle können.

Und zwar einen Text, der andere Menschen berührt.

 

Wenn taube Füße taub werden..

Hä? Was meint sie denn damit schon wieder?

Wie ihr euch sicherlich denken könnt, sind wir immer noch in England und lassen die Tage hier bei typisch englisch wechselhaftem Wetter verstreichen. Und wie ich es euch (und auch mir selber irgendwie) versprochen habe, zwinge ich meinen inneren (und äußeren in Form meines Freundes) Schweinehund jeden Tag dazu, wenigstens eine, manchmal kleinere und manchmal größere, Runde spazieren zu gehen. Da wir zwei Katzen in der Gegend gefunden haben, die anscheinend jeden Abend an der gleichen Stelle auf uns warten, haben wir einen guten Grund, uns zum Laufen zu zwingen.

Da zwei meiner engsten Freundinnen den weiten Weg nach England auf sich genommen haben, um uns zu besuchen (obwohl ich den Gedanken nicht verwerfen kann, dass eventuell etwas Eigennutz dahinter steckt), haben wir uns gestern zu viert in London verabredet.
Wie ihr euch vorstellen könnt, haben wir so ziemlich alles mitgenommen und abgeklappert, was man gesehen haben muss.
Und somit fiel unser gestriger Spaziergang etwas größer aus als sonst..

Es hat sich definitiv gelohnt! Wir hatten einen wunderschönen Tag. Doch als wir nach circa 10 1/2 Stunden wieder in unserer Unterkunft angekommen waren, dankten mir meine Füße die Ruhe sehr.

Und auf einmal wurde mir bewusst, dass meine seit mehr als anderthalb Jahren von Gefühlen tot geglaubten Füße doch noch Schmerzen empfinden können.

Ob man das nun als positiv oder negativ auffassen kann, bleibt jedem selbst überlassen.

Ich habe jetzt Blasen, geschwollene Füße, Muskelkater in den Waden und, was meiner Meinung nach am Wichtigsten ist: ein sehr sehr gutes Gefühl!

Und so werden wir auch heute wieder spazieren gehen. Und morgen. Und übermorgen. Und überübermorgen.

Solange meine Füße mich tragen können.